Wieder einmal ist ein Monat vergangen.
Wie schnell kann Zeit vergehen, wie unglaublich schnell. Siebter Monat. Noch zwei Monate bis Projektende.
Noch fünf bis Deutschland.
Maerz.
Am ersten Wochenende noch ein letztes Mal Skifahren. Tagesausflug.
Dann İzmir. Eine bunte, grosse Stadt, die eine riesige Bucht ausfüllt, wo die Menschen draussen sind, am Wasser, spazieren - eine andere Atmosphaere als in Eskişehir, belebter, gelebter, nicht das Ziel sondern der Weg ist das Ziel. Ich gehe durch die engen Gassen, deren kleine Laeden den Platz zum staendigen Markt werden lassen; Lebendes und Totes wird verkauft, Buntes, Metallenes, Anziehendes und Abstossendes, Schmuck, Kleider, Schuhe, Obst, Gemüse, Blumen, frisch gepresster Saft, gefüllte Muscheln. Die ersten warmen Tage, T-Shirtwetter und Bootsfahrt.
Am naechsten Tag Şirince, ein Dorf in den Bergen, um diese Jahreszeit beinah vergessen, nur ein paar Touristen. Bekannt für Wein, den ich nach dem kurvenreichen Weg auf der schmalen Bergstrasse dann auch nach einem ausgiebigen Frühstück mit Blick auf die alten Steinhaeuser und die umliegenden saftig grünen Wiesen voller weisser Gaenseblümchen, probiere kann.
Haus der Jungfrau Maria. Auf den Bergen in İzmir soll ihr letzter Wohnsitz gewesen sein. Hoch oben. In der Ecke des kleinen quadratischen Steinhauses sitzt ein Geistlicher und liest in der Bibel. Vor ihm der Sarg, hier soll sie wohl gestorben sein. Und ein Blumenmeer über ihr. Und Gaben von den Paepsten, Goldketten, Silberbecher.
Draussen Kerzen. Dann eine Wand voller bunter Tücher. Auch ich knote ein Papier dazu, wünsche mir etwas. Wir werden sehen.
Danach weiter, Ephesus. Artemistempel. Und wie unglaublich schnell kann man sich in Anbetracht von Geschichte vergessen. Für mich ist die Anlage unfassbar. Nichts mehr steht, die Saeulen sind gebrochen, die alten Theater leer, schweigend, aber die riesigen Steine, die winzigen Figuren, geritzt in das harte Material, die kreisrunden Saeulen, die enorme Grösse des Platzes, die Lage, die immensen, übereinander geschichteten Steine ...und wie unglaublich. Die Bibliothek wurde wieder aufgebaut. Wie eine riesige Mauer vor dir, beschmückt, ewige Tore, ewige Saeulen, maechtig.
Ein Weltwunder eben.
Dann Krankheit. So eine Krankheit, bei der du zu gesund bist um im Bett zu bleiben und zu krank um nach draussen zu gehen. Ich war ein wenig unzufrieden mit mir, meiner Situation und vielem, ich kann nicht tun was ich will. Negativitaet. Doch das hat sich gelegt, sobald ich gesund war.
Dann Besuch aus İzmir, und ich werde, da sonst jeder morgens arbeitet, zum Fremdenführer auserkoren und darf einem Türken die Stadt zeigen und erklaeren. Da dieser Türke sehr gespraechig, neugierig und ungeniert ist, ergibt sich aber auch für mich die Möglichkeit viel Neues zu erfahren und ein weiteres Mal türkische Unkompliziertheit kennen zu lernen. Lange reden wir mit Bauarbeitern, die eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert restaurieren und betreten einen Raum aus einer anderen Zeit. Fenster waren verstaubt, aber wir klopfen trotzdem, da vor dem Haus, das noch aus der osmanischen^ Zeit stammt, Kupferkrüge und Metallbecher in der Sonne stehen. Drinnen ein düsterer Raum, braun dominiert, Hitze, Waende voller metallener Behaelter, Schalen, Tablette, Becher. Auch der arbeitende Mann selbst ist braun. Verstaubt. Er klopft gerade auf einem Amboss sein Werkzeug gerade, neben ihm ein riesiger Steinblock, in der Mitte eine kleine Vertiefung, Kohle, die glüht, wenn er an der langen Metallkette zieht und dann ein Blasebalg von unten her Luft zuführt. Das ist auch in der Türkei altes Handwerk, aber man findet es doch noch: Das Vergangene.
Und letzten Mittwoch, nach den ersten wirklich heissen Tagen, nachdem davor das Bilderbuch Aprilwetter herrschte, mit fünfundzwanzig Grad fahren wir in den Süden. Zu viert. Mittwoch Abend bei einer Freundin in Antalya, Donnerstag weiter nach Olympos. Wir machen Halt in einem kleinen Dorf, an dessen Strand man sich auf die bald beginnende Saison vorbereitet. Haeuser werden angestrichen, Stühle rausgetragen, aber noch ist keiner da. Mehr für uns, Meer für uns. Olympos selbst: Überbleibsel einer einst maechtigen Stadt, und auch wenn die alten Steine von Gras überwuchert sind, mitten im Wald liegen, versunken, vergessen, so ist doch etwas spürbar. Ich bin dankbar, dass die Anlage so belassen wurde, dass der Tourist, der Interesse zeigt sich auch durch den Fluss kaempfen muss, durch den Wald, über unwegsames Gelaende, wenn er alles sehen will, was die Griechen hinterlassen haben. In der Umgebung ist der Bau von Haeusern verboten, und weil doch immer mehr Touristen kommen ist in den letzten Jahren eine Siedlung aus Baumhaeusern und Holzbungalows entstanden, Atmosphaere alternativ, international und abenteuerlustig, abends am Lagerfeuer umringt von Natur und den Holzhaeusern, bunt bemalt, ein bisschen Flower Power. Strand. Wasser: türkis.
Nachts Aufstieg auf den Berg. Hier brennen die Steine. Das Feuer von Olympos. Das erste olympische Feuer. Scheinbar unauslöschlich, wie lange brennt es schon. Auch dieser Weg ist nicht für den bequemen Touristen, am Eingang eine grosse Tafel, zuerst die Legende über das feuerspuckende Monster, das hier bezwungen wurde, dessen Flammen aber weiter brennen, dann die Gasanalyse.
Wir nehmen einen Tramper mit auf dem Rückweg, er erzaehlt uns vom schönsten Ort, den er je auf der Welt gesehen habe: Kekova. Gut, dass wir dort am naechsten Tag hingehen.
Weg an der Steilküste entlang, zwei Stunden Kurven mit Abgrund. Erst Halt in Demre, hier steht die Kirche des Noel Baba, des Sankt Nicholas, unseres Nikolauses oder auch des Santa Klaus. Wie auch immer, auf jeden Fall ein weiteres Mal ein beeindruckendes Überbleibsel aus Zeiten, die ich nicht kenne, an einem Ort, an dem Menschen hart arbeiten um zu überleben. Das komplette Tal ist voller Gewaechshaeuser, voller Tomaten und Kürbisse, voller Menschen, die einen anderen Lebensstandart haben. Die Schnellstrasse ist drei Meter vom Meer entfernt, wahrscheinlich geht hier kaum jemand schwimmen.
Die Umgebung ist voller antiker Überreste, immer wieder Graeber und Teile alter Haeuser, so oft, das nichts mehr ausgeschrieben wird, Teil der Natur. Vergessen.
Hochflaeche weiss. Voller weisser Gaenseblümchen. Grass knallgrün. Ziegen, Kühe. Einfach so, als waeren sie vom Himmel gefallen. Dann ein Dorf, kaum zehn Haeuser, Maenner sitzen im Schatten, trinken heissen Tee und rauchen. Mütze und Wolljacke und uns ist so heiss. Ein Esel waelzt sich im Staub. Ins Tal, ans Meer, es faellt der Begriff Paradies. Nicht nur einmal. Wasser wie Glas. Kekova. Das Dorf verschlafen. Im Sommer wird das wohl alles ein bisschen touristischer, aber es ist so ruhig. Wir treffen die Caver aus Antalya hier, haben ein Boot gemietet, für uns, fünfzehn, zwei Tage an Bord. Die Caver aus Antalya wandern, wir schlafen ein bisschen an Bord, sitzen am Steg, Füsse im Wasser, Eis in der Hand, Fischerboote.
Abfahrt, Fahrtwind tut gut, die Küste ist unfassbar. Vorgelagerte Inseln, bewohnt von Ziegen, die uns nachrufen, zerklüftetem Gestein, Kakteen, niederen Pflanzen. Am Wasser und im Wasser wieder Geschichte. Und Leben. Türkis, türkis, Himmel blau. Die Schiffsleute klettern aufs Dach des Bootes, werfen Nylonfaeden und fangen tatsaechlich einen Calamari. Ein so schönes Tier, die Augen grüntürkise Perlen, der Körper Glas mit grauen Tropfen. Zerlegt, gegessen, vergangen. Wir halten in dieser Bucht und jener Bucht, schnorcheln und ich lerne wieder Wörter, Bezeichnungen von Dingen, die ich in anderen Sprachen nie gelernt habe und manche Namen von Meeresbewohnern, die ich nicht mal auf deutsch weiss.
Nacht auf einer Insel, illegal hat sich hier jemand ein Haus gebaut, ein sehr schönes, und einen sehr schönen Steig und eine sehr schöne Treppe auf den höchsten Punkt über dem Wasser mit einer sehr schönen Aussichtsplattform und das alles gehört in dieser Nacht ungefragt uns. Musik, Bier, Feuer, Wasser. Haengematte. Gestern fahren, fahren. Das Wetter ist windig. Wieder halten wir, da und dort. Und einmal Landgang zu einer weiteren antiken Anlage, riesig, riesige Stadtmauer, Weg auf roter Erde, durch Kuhfladen und Mandelbaeume, von denen wir die Çağlas, die nicht reifen Mandeln, gross und grün und pelzig, pflücken, vergessen alles. Wir klettern auf den höchsten Punkt der Stadtmauer und dann bist du weg.
Essen an Bord, natürlich Fisch.
Heimweg. Wir probieren eine Abkürzung durch das Gebirge, die dann keine wird. Drei Stunden lang durch nichts ausser Panoramaaussichten. Und furchterregenden Abgründen. Und kleinen Dörfern. Abgeschnitten. Wirklich abgeschnitten.
Sichtweisen aendern sich.
^Bevor die heutige Türkei 1923 zur Republik wurde, war sie Teil des osmanischen Reichs, das bis weit nach Europa gereicht hat. Eine richtige 'türkische' Nationalitaet gibt es deswegen eigentlich nicht: In der heutigen Türkei leben Menschen, deren Vorfahren aus Osteuropa, dem Kaukasus oder Teilen des Nahen Ostens stammen. Und einige sagen das auch. 'Ich komme aus Bulgarien' heisst dann nicht, dass man Bulgare ist, sondern dass die Vorfahren aus dem heutigen Bulgarien stammen. Erst unter Atatürk wurden diese ganzen Menschen verschiedener Herkünfte allgemein zu 'Türken' - türkisch sprechender Muslim. Somit waren die Staatsbürger der neuen Republik definiert.